Vor 100 Jahren war das mal ein Ausflugsziel der feinen Berliner Gesellschaft. Man fuhr zur Sommerfrische hinaus aufs Land nach Lychen: das kleine Städtchen in der brandenburgischen Uckermark, das gleich an sieben Seen liegt. Ein Luftkurort mit Rehazentrum für deutsche Olympiaathleten, der sich zum Treffpunkt von Nazigrößen, europäischem Hochadel und Botschaftern aus aller Welt entwickelte. Ende des Zweiten Weltkriegs war dann Schluss. Die Russen kamen, setzten halb Lychen in Brand und zogen auch erst nach der Wende von hier fort.
Bei Tanja sitzen die Touristen
Jetzt warten die Hausboote festgezurrt am kleinen Stadthafen unterhalb der Sankt-Johannes-Kirche auf die zurückkehrenden Freizeitkapitäne. Der 700 Jahre alte Bau aus Granit-Feldsteinen hatte wie auch Teile der mittelalterlichen Stadtmauer die Eroberung durch die Rote Armee überlebt. Nun sitzen bei Tanja Niclas die Touristen im Garten und essen Himbeertorte. Den Blick auf den Stadtsee des 3700 Einwohner großen Ortes gibt es gratis dazu. Die junge Frau mit den roten Wangen hat direkt an der Stadtmauer das Café Kunstpause eröffnet. Und einen kleinen Laden gibt es auch.
„Was es bei uns gibt? Na, zum Beispiel Apfelwein vom Gutshaus Kraatz oder Honig von der Zerpenschleuse“, sagt Tanja und zeigt auf das Sortiment an Lebensmitteln aus der Region. Das begeistert die Skipper, die sich hier schon mal eindecken, bevor sie wieder ins Wasser starten. Immerhin haben die etwa 13 mal vier Meter großen, leicht zu steuernden Hausboote neben zwei bis drei Schlafkabinen auch eine mit Kühlschrank und Gasherd ausgestattete Kombüse, in der man wunderbar kochen kann. Und auch Angela und Klaus aus Berlin und Dörthe und Greta aus Hamburg greifen zu und bringen die Vorräte an Bord der „Bummelbiene“, wie sie ihr schwimmendes Zuhause gleich zu Beginn der Reise getauft haben.

Lychen in Brandenburg ist nur eine der vielen kleinen Städte, die die Hausboot-Fangemeinde auf den Touren durch das größte zusammenhängende Wassersportrevier Europas im Nordosten Deutschlands erwarten. Nicht wenige von ihnen haben schon ein paar Tage Sightseeing in der Metropole Berlin hinter sich, bevor sie zum Beispiel in Fürstenberg an der Havel an Bord gehen. Was sie hier auf der Grenze zwischen Brandenburg und Mecklenburg im Dahingleiten mit maximal zehn Stundenkilometern entdecken, ist ein faszinierendes Wasserreich mit einer Naturlandschaft, in der sich Wälder mit Feldern, Wiesen und Weiden abwechseln. Im Wasser tummeln sich Welse, Hechte und Brassen. Seerosen und Orchideen blühen hier – ein Lebensraum für über 800 Pflanzen- und 150 Vogelarten. Und während die Natur langsam wie im Film an ihnen vorbeizieht, starten sie auch eine Zeitreise ins Gestern. Die Mangelwirtschaft der DDR-Jahre hat zwar Spuren hinterlassen. Aber viele der historischen Bauten in den kleinen Städten und Dörfern sind dank Fördergelder in den alten Zustand zurückversetzt worden, als der preußische Adel hier noch das Sagen hatte.

Von der Eiszeit geformt
Der Wasserweg von Lychen über Fürstenberg an der Havel bis ins nördlich gelegene Neustrelitz birgt allerdings einige Herausforderungen in Form von Höhenunterschieden. Denn die Mecklenburgische Kleinseenplatte – das ist der südöstliche Teil der Mecklenburgischen Seenplatte mit seinen über 1000 Seen – hat sich in den Hohlformen der letzten Eiszeit gebildet. Da schoben sich mächtige Gletscher wie ein Hobel über Norddeutschland hinweg und hinterließen eine hügelige Jungmoränenlandschaft mit über 100 Meter hohen Erhebungen und über 30 Meter tiefen Seen. Den unterschiedlichen Wasserstand müssen sich die Crews in den Booten per Schleusen erarbeiten.
Das heißt: Langsam an die Schleusenkammer heranfahren. Wenn das Schleusentor geöffnet ist, in die doch recht schmale Kammer hineingleiten. Das Boot dann so festmachen, dass es den Höhenunterschied flexibel mitmachen kann, wenn das Wasser in den Kammern steigt oder sinkt. „Da geht schon mal der Adrenalinspiegel hoch, wenn man das als Freitzeitkapitän nicht jeden Tag macht“, gesteht Klaus, der das erste Mal mit dem Hausboot unterwegs ist. Perfekt aufeinander abgestimmtes Teamwork ist jetzt gefragt; manchmal fliegen da auch die Fetzen und die Boote bekommen die eine oder andere Schramme ab.
Meist geht es allerdings erstmal in die Warteposition: Gerade im Sommer ist viel los auf den Wasserstraßen. Die Schleusenkammern dagegen können meist nur zwei bis drei Boote gleichzeitig aufnehmen. „Aber das macht ja nüscht“, lacht der Berliner. „Dann kommt man schnell ins Gespräch mit den anderen, die genauso warten müssen!“ Die Crews auf den Hausbooten tauschen sich an diesen „Haltestellen“ vor den Schleusen rege aus. Angela begeistert: „Ich habe gerade tolle Tipps für die besten Ankerplätzen und auch Häfen bekommen, in denen man gut übernachten kann.“
Vor dem Abendessen in den See
Wer aber in erster Linie in die Natur eintauchen will, macht einen Bogen um die quirligen Häfen und ankert am Abend direkt auf einem der vielen Seen. 50 Meter Abstand zum Ufer und natürlich auch zum nächsten Boot und schon rasselt die Ankerkette auf den Grund. Aber es sind erstaunlich wenige, die nachts draußen auf dem Wasser bleiben. Die genießen aber eine Stille, die anderswo kaum zu haben ist.
Dörthe und Greta schwärmen: „Und wenn man dann vor dem Abendessen zur Abkühlung in den See springt: Das ist einfach unbezahlbar!“ Ein Gefühl der Freiheit gibt es gratis dazu, wenn der Duft von Bratkartoffeln mit Speck aus der bordeigenen Kombüse hinauf an Deck steigt und dort schon ein kühles Bier wartet. Wenn der Blick dann weit über die Wasserfläche wandert, ein Seeadler aufflattert und die Fische aus dem Wasser aufspringen, um nach Insekten zu schnappen – großes Naturkino!

Der weltbeste Hafenmeister
Natürlich hat auch das Festmachen im Hafen seinen Reiz. Besonders beim weltbesten Hafenmeister Benny: „Wir haben hier aber auch den besten Hafen Mecklenburgs“, sagt der junge Mann und zeigt auf das bunte Mosaik von unterschiedlichen großen und kleinen Schiffen, die im Stadthafen am Zierker See in Neustrelitz liegen. In den angrenzenden Restaurants herrscht an Sommerabenden ein ständiges Kommen und Gehen, während der Rauch der Grills an Bord der Schiffe in den Himmel steigt. In fünf Minuten ist man von hier aus zu Fuß am Marktplatz, wo ein modernes Wasserspiel zwischen historischen Fassaden perlt. Neustrelitz ist ein echtes kulturelles Highlight der Tour. Die sternförmige barocke Stadtanlage ist einmalig in Europa und begeistert auch die Crew der „Bummelbiene“: „Das ist ein klasses Ausflugsziel, besonders auch für Kulturinteressierte. Die alte Residenzstadt lässt sich am besten übers Wasser einnehmen!“
INFOBOX:
Hausboote: z. B. von Locaboat. Die Europaboote gibt es in fünf Ausführungen für Crews von zwei bis acht Personen. Man kann die Schiffe ohne Motorbootführerschein fahren. Es gibt eine kurze Einführung bei der Übernahme. Zu buchen über: www.locaboat.com/de.
Tipps für Deutschlands größtes Wassersportrevier mit Tourenvorschlägen und Hinweisen zu Aktivitäten in und am Wasser: www.deutschlands-seenland.de
Gastrotipps und Hinweise zu Kunstausstellungen in Wassernähe mit passenden Anlegevorschlägen: www.mecklenburgische-seenplatte.de/hausbooturlaub-2022
Allgemeine Infos: www.mecklenburgische-seenplatte.de/hausbooturlaub-2022
Eine Auszeit mit dem Hausboot – wäre das etwas für Dich? Oder bist Du eher eine Landratte? Wo und wie verbringst Du am liebsten Deine Urlaube?