Gestern traf ich meine alte Schulfreundin Gerti, so viele Jahre hatten wir uns nicht gesehen. Bei lieblichem Sonnenschein saßen wir in dem kleinen Café am Ufer. Gerti wie schon vor 40 Jahren von Kopf bis Fuß in die neuesten Trends gehüllt, klagte mir ihr modisches Leid: Heute wären dichte volle Augenbrauen „in“, aber da sie ihre so viele Jahre lang auf Strichstärke gezupft hatte, wuchsen sie nun nicht mehr nach. Und überhaupt … ihre Bäckchen würden anfangen zu hängen, das Haar werde lichter, dafür die Orangenhaut an den Beinen immer stärker.
Ob ich auch solche Probleme habe?
Nicht mehr. Frieden mit meinem Körper schließen, ihn akzeptieren und sogar lieben, wie er ist, mit den etwas zu wuchtigen Oberschenkeln, dem ausladenden Hinterteil, dem runden Bäuchlein – das hatte bei mir ein Aha-Erlebnis gebraucht.
Und eine Reise in ein fernes Land:
Ich war in meinen Dreißigern und hatte mich wochenlang mit disziplinierter Diät und schweißtreibenden Tanzeinheiten erfolgreich zur Bikini-Bestform gestählt. Die „Brigitte-Kohlsuppen-Diät“ schmeckte zwar grauselig und meine Laune hing im Keller, aber hey: Am Ende dieser Qual erstrahlte meine Figur im Spiegel genauso wie die Models auf den sich auf meinem Hometrainer stapelnden Frauenzeitschriften und darauf kam es doch an, oder?
Meine Venezuela-Reise konnte also kommen und schon am ersten Morgen stolzierte ich in bauchfreiem Top und Minirock stolz durch das kleine Küstendörfchen. Und wurde prompt belohnt: Die auf einer Brückenmauer herumlungernde männliche Dorfgemeinschaft pfiff und johlte mir allerlei Komplimente zu.
Uhm. Jedenfalls dachte ich das am Anfang. Leider übersetzte mein geringe-Spanischkenntnisse-trainiertes Hirn die Rufe folgendermaßen: „Hey, du dünner Storch“ oder „Iss mal was, sonst fällst du bald um“ und „Igitt, das ist doch keine Frau!“.
Ich kann mich ganz genau erinnern, wie ich irritiert und beschämt Richtung Strand schlich und mich dort die nächste Überraschung erwartete: Selbstbewusst wogten die einheimischen Frauen mit ausufernden Körpermaßen die Promenade entlang, in engsten Tangas. Dünne Körper? Fehlanzeige. Auch nicht auf den Covern der Modemagazine, stattdessen sprengten pralle Brüste, kurvige Hüften und proppere Bäuche den kleinen Zeitungskiosk.
Mein Aha-Erlebnis:
Schönheitsideale sind von der Gesellschaft erfundene Leitbilder und ändern sich von Land zu Land, von Kultur zu Kultur, von Zeit zu Zeit.
Die Bestätigung fand ich noch am selben Tag in meiner Strandlektüre, in dem Buch „Der springende Punkt“ von Anthony de Mello. Die Seiten sind mittlerweile abgewetzt, weil ich es immer wieder heraushole, wenn ich vor dem Spiegel stehe und mich doch mal wieder „nicht okay“ finde (es kommt vor, wir sind ja alle nur Menschen, nicht wahr?).
Meine Lieblingsstelle ist dieses Zitat:
„Wenn Sie sich erlauben, sich gut zu fühlen, sobald man Ihnen sagt, dass Sie okay sind, schaffen Sie die Voraussetzung dafür, sich schlecht zu fühlen, sobald man Ihnen sagt, dass Sie nicht okay sind. Solange Sie dafür leben, die Erwartungen anderer zu erfüllen, achten Sie darauf, was Sie anziehen, wie Sie sich frisieren, ob Ihre Schuhe geputzt sind – kurz, ob sie jeder lächerlichen Erwartung entsprechen wollen. (…) Der springende Punkt ist, dass Sie weder okay noch nicht okay sind. Sie können höchstens der momentanen Stimmung, dem Trend oder der Mode entsprechen.“
Und damit sind wir wieder bei Gerti:
Ich tröstete sie, dass in ein paar Jahren alle wieder Strich-Augenbrauen tragen werden und sie dann voll im Trend läge. Garantiert!