Die Entscheidung für einen Beruf war früher eine Entscheidung für ein ganzes Leben. Noch bis vor ein paar Jahren war „Betriebstreue“ für uns Deutsche ein erstrebenswertes Ziel, bot sie uns doch finanzielle Sicherheit und routinierte Abläufe – im besten Fall bis zur Rente.
Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, in einem Beruf ein ganzes Leben lang zu arbeiten – auch nicht die älteren Arbeitnehmer: innen.
Aktiv statt krank werden
Ist die erste Lebenshälfte vorbei, ziehen viele von uns Bilanz. Es wird auch im beruflichen Bereich abgewägt, was gut oder nicht so gut gelaufen ist. Habe ich erreicht, was ich erreichen wollte? Geht es mir gut im Job? Fühle ich mich wohl? Wird meine Arbeit wertgeschätzt? Bin ich zufrieden damit?
Wenn Du die Mehrheit dieser Fragen mit NEIN beantwortest, liegst Du im Trend. Momentan sind auffallend viele Arbeitnehmer:innen mit ihrer Arbeit unzufrieden. Resigniert durch zu wenig Wertschätzung, Dauerstress, monotone Arbeitsaufgaben und oftmals auch die Erkenntnis, über Jahre den falschen Job auszuüben, ist die Arbeit nur noch Mittel zum Zweck – das monatliche Gehalt mutiert zum Schmerzensgeld. Obwohl wir wissen, dass Geld allein nicht glücklich macht und der Job uns frustriert, arrangieren sich viele von uns mit dieser Situation.

Ich kenne das alles leider nur zu gut. Schon der Weg zur Arbeit war eine Qual für mich. Die Vorstellung, wieder acht Stunden im Büro zu sitzen, langweilige E-Mails beantworten zu müssen und mich mit Fragen, Fakten, Zahlen zu beschäftigen, die mich überhaupt nicht interessierten, zermürbten mich. Ich wusste, dass ich in meinem Job absolut falsch war. Aber was sollte ich machen? Ich durchforstete halbherzig die Stellenangebote und fand so interessante Berufsbezeichnungen wie „Data-Scientist“, „Payroll-Executive“ oder „Field-Operator“. Frustriert war ich davon überzeugt, dass es viel zu spät für einen Neuanfang sei. Also lief der tägliche Verdrängungsmechanismus weiter, der mir half, den Arbeitstag zu überstehen. Freude und Entspannung empfand ich nur noch in meiner Freizeit und im Urlaub. Die Arbeitstage zogen sich zäh dahin, der Schlaf war nicht erholsam und der Urlaub viel zu kurz.
Gefährlich an solch einer Situation ist, dass die permanente Unzufriedenheit, verbunden mit Stress und Frust, auf Dauer krank machen kann. Überlastung, innere Kündigung1 und psychische Probleme können die Folge sein.
Leider musste ich das auch erfahren. Von heute auf morgen ging nichts mehr. Körper und Geist machten dicht – ich wurde krank.
Spätestens jetzt sollte es heißen: Aktiv werden! Aber können wir überhaupt noch etwas ändern? Sollten wir nicht lieber „Business as usual“ bis zu Rente durchziehen, als Risiken einzugehen?
Innere Kündigung
Als Zustand der inneren Kündigung wird die Haltung eines Arbeitnehmers bezeichnet, der sich nur noch minimal für das Unternehmen engagiert, sein Angestelltenverhältnis aber weder beendet noch sich explizit dagegen äußert. Wer innerlich kündigt, ist daher für Arbeitgeber schwer zu erkennen, da es ein lautloser Prozess ist.
Mehr Chancen durch demografischen Wandel bei der Jobsuche
Die gute Nachricht vorab: Ja, wir können etwas ändern, denn die Zeiten, in denen ältere Arbeitnehmer:innen kaum Chancen hatten, sich beruflich um- oder sogar neu zu orientieren, sind vorbei.
Der demografische Wandel macht es möglich. Ältere Menschen rücken in den Fokus der Arbeitgeber, die wissen, dass gut ausgebildetes Personal schwer zu finden ist. Der Fachkräftemangel ist überall spürbar.
Immer mehr Unternehmen setzen auf die Beschäftigung von qualifizierten Arbeitnehmer:innen jenseits der 40, 50 und sogar 60 und profitieren von deren wertvollen beruflichen Erfahrungsschätzen.
Die nicht so gute Nachricht: Eine berufliche Um- oder Neuorientierung in der Mitte des Lebens ist trotzdem kein Kinderspiel.

Vorurteile, Gedankenkarussell und Blockaden überwinden
Wenn wir ab einem gewissen Alter davon sprechen, noch einmal einen neuen beruflichen Weg zu gehen, bekommen wir oft zu hören, dass wir uns das ganz genau überlegen sollten. Jetzt haben wir doch einen gutbezahlten, wenn auch öden Job und die paar Jahre gehen auch noch vorbei. Lieber ein totes Pferd geritten, als auf Firmenwagen und andere Vorteile verzichten.
Als wüssten wir das nicht selber … Trotzdem ist der Wunsch da: der Wunsch nach einem Wechsel, um in den verbleibenden Arbeitsjahren berufliche Erfüllung und Wertschätzung zu finden.
Natürlich haben wir Angst, unsere eingefahrenen Gleise zu verlassen, weil wir nicht wissen, was kommt und ob der Neustart gelingt.
Wir stehen uns oft selbst im Weg und unser Gedankenkarussell kreist u. a. um:
- Ich bin zu alt …
- Ich kann das nicht …
- Ich habe Angst, zu versagen …
- Ich möchte nicht wieder ganz von vorn oder von ganz unten anfangen …
- Mir wird das Lernen schwerfallen. Ich werde das alles nicht verstehen …
- Das Geld reicht nicht, um mich selbstständig zu machen …
- Ich habe einen Firmenwagen und kann im Homeoffice arbeiten. Das bekomme ich so schnell nicht wieder …
- Ich muss meine Familie versorgen …
- Ich habe Angst, meine Sicherheit aufzugeben …
- …
So viele Vorurteile und Ängste! Auf der einen Seite ist es gut, dass es sie gibt, halten sie uns doch von spontanen Handlungen ab, die wir später bereuen könnten. Andererseits blockieren sie uns, bremsen uns aus. Aber wir können lernen, sie zu nutzen und mit ihnen umzugehen.
Wer bin ich und was will ich wirklich?
Wenn wir uns trotz unserer Bedenken zu einer beruflichen Neu- oder Umorientierung entschließen, sollten wir uns drei ganz wichtige Fragen stellen: „Was will ich wirklich?“, „Welcher Beruf füllt mich aus?“ und „Wo sehe ich mich in den nächsten Jahren?“.
Dass Du unbedingt noch einmal etwas anderes machen möchtest, weißt Du schon längst. Aber was genau das sein soll, weißt Du vielleicht nicht. Selbsttests, Ratgeber und schlaflose, durchgrübelte Nächte haben Dir auch nicht weitergeholfen.
Du fragst Dich, ob ein interner Abteilungswechsel, die „sanfte Variante“, schon reicht. Oder muss es doch der Arbeitgeberwechsel, ein ganz neuer Beruf oder möglicherweise sogar die Selbstständigkeit sein, Deine berufliche Sackgasse zu verlassen?
Folgende Punkte können Dir helfen, Bedenken zu überwinden und die richtigen beruflichen Entscheidungen zu treffen:
1. Persönliche Bilanz ziehen
Nimm Dir Zeit und lerne Dich neu kennen. Stell Dir Fragen, wie z. B.:
- Was kann ich gut?
- Was macht mir Spaß
- Was mag ich gar nicht
- Kann ich Hobby und Beruf verbinden?
- Hatte ich schon mal einen Job, der mir richtig Spaß gemacht hat?
- Bin ich ein Teamplayer oder arbeite und entscheide ich lieber allein?
- Arbeite ich gerne am Schreibtisch oder brauche ich Bewegung?
- Benötige ich klare Strukturen oder meine Freiheit?
- Was wollte ich schon immer machen?
- Welche Träume hatte ich als Kind?
- Bin ich bereit, noch einmal neu zu lernen
- Kann ich ein geringeres Gehalt akzeptieren
- Könnte ich mir ein unbezahltes Praktikum oder Ehrenamt vorstellen, um in einen neuen Beruf zu schnuppern?
- …
Frag auch Deine Familie, Freunde, Bekannte, vertrauenswürdige Kollegen, wie sie Dich sehen. Ihr ehrliches Feedback wird Dir ganz sicher helfen.
2. Austausch mit anderen
Vielleicht gibt es ja jemanden im Freundes-, Familien- oder Bekanntenkreis, die/der sich getraut hat, noch einmal neu zu starten, oder die/der genau die Tätigkeit ausübt, mit der Du liebäugelst … Diese Personen sind sehr wichtig, denn Du kannst von ihren Erfahrungen partizipieren. Auch in den sozialen Netzwerken finden sich Menschen, die den Mut hatten, ihren Weg zu gehen, und sicher gerne darüber berichten. Trau Dich! Sprich sie an und baue Dein Netzwerk auf.
3. Professionelles Coaching
Ein Personal- oder Business-Coach kann helfen, innere Blockaden ab- und Selbstbewusstsein aufzubauen und die Richtung für einen neuen Job zu finden.
Unterstützung bietet übrigens auch hier die Agentur für Arbeit an: Dort wurde vor einigen Jahren das „Projekt Ich – Lebensbegleitende Berufsberatung“ ins Leben gerufen, das sich u. a. an ältere Menschen richtet und mit Erfolg hilft, den passenden beruflichen Weg zu finden.
Auch wenn es vielleicht etwas dauert. Nimm Dir die Zeit und wenn nötig Hilfe in Anspruch, um die Antworten auf die wichtigen Fragen zu finden, auf denen Du Deine berufliche Zukunft aufbauen kannst.
Die „Ikigai-Methode[1]“2 kann Dir helfen, Dich in einem Selbstcoaching näher kennenzulernen und den „Sinn des eigenen Lebens“ zu finden. Vier Fragen: „Was liebe ich? Was kann ich gut? Was braucht die Welt von mir? Wofür werde ich bezahlt?“ und deren Überschneidungen können eine Entscheidungsbasis für Deinen zukünftigen Weg sein. Wenn Dich die „Ikigai-Methode“ interessiert, recherchiere einfach mal im Internet. Dort findest Du die Anleitung, Dein „Ikigai“ zu finden, das optimalerweise ein Beruf ist, für den Du brennst, den Du gut beherrschst, dessen Ergebnisse die Welt braucht, und Du so natürlich auch dafür bezahlt wirst.

Was Hänschen nicht lernt …
Muss noch einmal die Schulbank gedrückt werden, gibt es keinen Grund, Angst davor zu haben. Das Sprichwort: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“ ist lange überholt und wissenschaftlich widerlegt. Heute weiß man, dass unsere Gehirne bis ins hohe Alter lernfähig bleiben, denn sie wachsen und regenerieren sich, ähnlich wie junge Gehirne. Außerdem besitzen ältere Menschen Lebenserfahrung und haben durch Schule, Studium, Fortbildungen, Arbeit und das Leben selbst eine gute Allgemeinbildung. So wird das zu Lernende sogar leichter und besser erfasst, verstanden und umgesetzt. Du kannst Dich also voller Zuversicht und Selbstbewusstsein in ein Abenteuer stürzen, von dem Du dachtest, dass Du das nie wieder brauchst. Und wenn Du weißt wofür, dann lernt es sich sowieso viel leichter. Du lernst nun, was Du schon immer wissen wolltest.
Ich kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass ein beruflicher Neuanfang ab einem gewissen Alter nicht ganz einfach, aber auf jeden Fall möglich ist. Mit 50 plus saß ich noch einmal im virtuellen Hörsaal und erfüllte mir meinen Traum. Es war stressig, ja. Aber es war genau richtig für mich, denn ich habe endlich lernen können, was mich schon immer interessierte. Anschließend wagte ich den Sprung in die Selbstständigkeit. Und hier kamen mir meine beruflichen Erfahrungen zugute. Ich benötigte z. B. keinen Gründerkurs. Alle wichtigen Informationen im kaufmännischen und organisatorischen Bereich besaß ich bereits. Ich wusste, welche ersten Schritte ich gehen musste, und konnte so viel Zeit und Geld sparen.

Mich haben Mut, die Auseinandersetzung mit mir selbst, Zielstrebigkeit und Optimismus an mein Ziel gebracht. Heute übe ich einen Beruf aus, der mich wirklich glücklich macht.
Ich bin absolut überzeugt davon, dass Du das auch kannst. Lass Dich nicht von Deinen Träumen abbringen, was auch immer Dein berufliches Ziel sein mag. Jetzt ist genau die richtige Zeit für einen Neuanfang.
Stehe immer voller Überzeugung hinter Deinem Ziel!
Denn ist ein Ziel erst einmal klar definiert und gibt es einen Plan zum Erreichen desselben, ist es einfacher, dieses auch zu erreichen.
Mit Motivation, Lebenserfahrung und Energie wird es Dir sicher gelingen, das Ruder herumzureißen und Deinem beruflichen Weg eine neue Richtung zu geben.
Gut zu wissen – drei Tipps zum Schluss
- Für Umschulungen oder Ausbildungen, die von der Agentur für Arbeit oder der Rentenversicherung getragen werden, gibt es keine Altersgrenze!
- Für alle, die eine Selbstständigkeit planen, lohnen sich Gründercoachings, um Fragen nach Zuschüssen, Businessplänen, Fördermitteln, Steuern usw. zu beantworten. Solche Kurse werden z. B. von der Agentur für Arbeit oder von Gründerberatungen angeboten.
- Ab 40 muss in einer Bewerbung mit anderen Pfunden gewuchert werden. Der Fokus der Bewerbung sollte jetzt auf den Qualifikationen und Erfahrungen, der Flexibilität und den ausgeprägten Soft Skills liegen.
Da die Bewerbungsschreiben sich in den letzten Jahren sehr verändert haben, kann auch hier ein Training mit einem Bewerbungscoach oder bei der Agentur für Arbeit helfen, Unsicherheiten zu beseitigen.
Verrate uns doch einmal, ob Du Dir vorstellen könntest, den beruflichen „Reset-Button“ zu drücken. Oder hast Du es vielleicht sogar schon getan?
Wir freuen uns darauf!
6 Antworten
Toller und informativer Artikel – lieben Dank! Ich überlege auch gerade mich beruflich neu zu orientieren… Ich lese dafür das Buch “Ikigai: Die japanische Lebenskunst!”…das Thema greift ihr ja auch auf und hilft sehr meine Gedanken zu strukturieren.
Danke!
Ich bin 60 geworden und habe mich getraut und gekündigt!
2022 scheint nicht nur ein Änderung in der Politik/Energiekrise und dem Klimawandel zu sein, sondern auch ein besonderes Jahr für meine Berufung. Ich lerne gerade, das ich keinen Job mehr mache der mich nicht ausfüllt und dazu keine Wertschätzung bringt! Sei es von der Menschlich, aber auch die finanziellen Seite darf es stimmen!
Erst gestern sagte ich, das immer noch noch daran glaube, das es Arbeitgeber gibt, die ihre Mitarbeiter*innen gut bezahlen und Wertschätzen. Ich suche weiter!
Hallo geradeJETZT, das hört sich super und sehr sehr gesund an – wir wünschen viel Erfolg! (PS. cooler Nickname 🙂 )
Ikigai ist super. Ich hab die Methode vor ein paar Jahren kennengelernt, seitdem fällt es mir viel leichter Prioritäten zu setzen.
Finden wir auch!