Als ich die quietschende Türe des Briefkastens öffne, fällt mir sofort auf, dass sich zwischen der üblichen Langweiler-Post – Rechnungen, Kontoauszüge, Delivery-Werbung – ein Brief verbirgt, ein echter Brief. In einer etwas kindlichen Handschrift steht mein Name darauf, oben rechts der Absender: mein alter Freund Flo. Er: Schauspieler in Berlin, ich: Journalist in München. Seit fast zwanzig Jahren haben wir uns etwas aus den Augen verloren. Die Erinnerung aber, dass wir uns einmal sehr wichtig waren, dass wir viele Intensitäten miteinander geteilt haben – berauscht auf dem Dachfirst meines Hauses gesessen, nackt in einem eiskalten Wald-Bach gebadet –, ist immer noch lebendig. Etwas beunruhigt – ich rechne immer mit schlechten Nachrichten – reiße ich den Brief auf, überfliege die ersten Zeilen dieser mir vertrauten Handschrift. Zu meiner Beruhigung steht da nichts von Krankheit oder Todesfall. Flo schreibt einfach, wie es ihm so geht.

Tränenbenetzte Briefe
Briefe hatten einmal eine große Bedeutung in meinem Leben – und zwar in den mittleren und späten 1990ern. Man hatte bereits E-Mail, dem Medium aber haftete etwas Nerdiges, Streberhaftes, zugleich aber auch Kaltes an. E-Mails schrieb man mit seinen Dozenten an der Universität. Die wichtige Korrespondenz mit intimen Freunden fand auf Papier statt. Erst sehr viel später und als Briefe wirklich zu einem medialen Atavismus geworden waren, wurde mir klar, was es damit auf sich hatte. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke stellt mit seiner historischen Studie „Körperströme – Schriftverkehr“ eine interessante These zur Genese der Schriftkultur. Die entstand bekanntlich im frühen 18. Jahrhundert, als sich das Bürgertum gegen den Adel abgrenzen wollte.
Die höfische Kultur war laut Koschorke auch durch das Fließen von Körpersäften gekennzeichnet: In Duellen wurde Blut vergossen, beim höfischen Tanz floss der Schweiß, bei anschließenden Schäferstündchen ging es um andere Sekrete. Das Bürgertum war von dieser gleichsam frivolen wie oberflächlichen Präsenz-Kultur angeekelt – und installierte im Gegenzug ein System der Intimität in Distanz: den Schriftverkehr. Hier ging es nicht mehr darum, den anderen zu übertrumpfen. Vielmehr war nun Gefühl die harte Währung. In seitenlangen Bekenntnissen forschte man jeder noch so feinen Verästelung des eigenen Erlebens und Empfindens nach. Vereinigung im Gefühl: Höchstes Ziel war es, dass beide – der Sender beim Schreiben, der Empfänger beim Lesen – vor Rührung weinen. Koschorkes Pointe ist, dass das Konzept des modernen, sich ständig selbst beobachtenden Subjekts erst mit dem Schriftverkehr in die Welt kam.
Das Leben anderer
Bei unserem frühen Briefverkehr – wir waren damals um die zwanzig – ging es meinen Freunden und mir um genau das. Wir steckten in der letzten Phase der Pubertät und waren gerade dabei, unser Selbstbild zu konsolidieren. Das machten wir, indem wir alles in schonungsloser Offenheit niederschrieben. Besonders mit meinem Freund Philip wechselte ich damals unzählige Briefe. Er war gerade nach Berlin gezogen, hatte dort sein Comingout und berichtete mir ausführlich von seinen ersten Erfahrungen mit der schwulen Szene. Das war auch eine Form von Selbstversicherung: Das ist mein Weg, das ist nun mein Leben. Im Gegenzug schrieb ich von meinen ständig wechselnden Verliebtheiten (auch bei mir ist etwas los, wollte ich damit sagen), bannte aber auch die damals typischen Existenzängste auf Papier. So hatten wir am Leben des Anderen teil, machten uns Erfahrungen, die wir jeweils selbst nicht erleben konnten, zu eigen. Schon damals fiel mir auf, dass es leichter ist, intime Dinge zu schreiben als zu sagen. Indem man sie niederschrieb, gewannen sie aber auch an Gewicht. Im Nachhinein kommt es mir so vor, als hätten wir unsere Persönlichkeiten in Briefen geformt.

Memes statt Ergüsse
Dass dieser Briefwechsel eingestellt wurde – die alten Briefe lagern gut verwahrt in mehreren Weinkisten –, hatte mehrere Gründe. Zum einen setzte sich mit SMS und WhatsApp eine andere Form des Austausches durch: die Kompaktkommunikation. Wenn Philip mir das Bild einer Qualle schickt, mag das für Außenstehende kryptisch erscheinen, für mich aber ist sein Wesen – seine Faszination für glibberiges Zeug, unser gemeinsames Interesse an Biologie – sofort sichtbar. Vor allem aber gab es keine Notwendigkeit mehr, sich seines Lebenskonzepts in der Niederschrift zu versichern.
Eine zweite Phase der Exploration?
Flos Brief lese ich erst eingehend, als ich von der Arbeit nach Hause komme. Vielleicht scheue ich mich auch etwas, weil ich diese Form handschriftlicher Intimität nicht mehr gewöhnt bin. In groben Zügen schildert Flo sein Leben in den vergangenen zwanzig Jahren: Kinder, Trennung von der Frau, die ich noch kennengelernt hatte, Depression, eine neue Liebe, nun ein Leben zwischen Berlin Mitte und Brandenburg. Schnell wird mir aber klar, worum es eigentlich geht. Martin zieht Bilanz. Kein Wunder in unserem Alter. Er fragt sich, was sein Leben nun, da alles in ruhigem Fahrwasser ist, noch so bringen wird. Und diese Frage stellt er auch an mich, weil wir es damals waren, die eine ganz explizite Vorstellung des guten Lebens teilten: Aufregend sollte es sein. Sich schonen? Nichts da. Jede Erfahrung war gut und wichtig. Unser Ziel war es, im Sonnenwind einer Intensität zu stehen. Mir ist klar, dass dieses jugendliche, im Endeffekt eigentlich sogar kindliche Ideal nur angepasst ins fünfte Lebensjahrzehnt übernommen werden kann, sonst landet man schnell beim Motorrad.
Aber vielleicht geht es gar nicht darum, Antworten zu haben, vielleicht geht es darum, gemeinsam herauszufinden, ob man nicht nur Erinnerungen teilt, sondern auch gegenwärtige Leidenschaften.
Mehrere Monate liegt Flos Brief auf meinem Schreibtisch. Das Gute an schriftlicher Korrespondenz ist ja, dass sie geduldig ist. An einem Abend schließlich trinke ich mir etwas Schneid an und beschreibe dann sehr ausführlich, welche Pflanzen ich bei meinem Vorfrühlings-Spaziergang durch den Botanischen Garten entdeckt habe, und dass mich die Amseln gerade jeden Morgen mit ihrem Gesang wecken. Ich weiß, dass Flo verstehen wird, was ich damit meine.
3 Antworten
Hallo, ich LIEBE es Briefe zu schreiben und finde es sehr schade, dass dieser Brauch ziemlich unmodern geworden ist. Heutzutage tippt man lieber mal eben schnell in die Tasten und ich gebe selbst zu: es ist einfacher und schneller. Aber ein guter alter Brief, mit der Hand geschrieben – nichts ist persönlicher. ich würde mich sehr freuen, wenn dies wieder “modern” würde.
VÖLLIG VERALTET!!!!!!
Ich verstehe grundsätzlich nicht, wieso Menschen sich schreiben – man kann doch reden! Einfach zum Telefonhörer gegriffen und mal angerufen. Wieso nicht?